HS als bloße Angstverdrängung?
Es traf mich wie ein Schlag und ich musste erstmal schlucken. Diese Aussage – beiläufig geäußert und trocken abgefertigt gleichermaßen – stürzte mich im wahrsten Sinne in eine Art Glaubenskrise.
Ja, HS ist ein Konstrukt, eine nicht abschließend bewiesene, in Arbeit befindliche, wissenschaftliche Theorie, die zutreffen kann, aber nicht muss. Elaine Aron als Pionierin auf dem Gebiet stellte selbst noch in Frage, ob das, was Sie herausgefunden hatte, „der Weisheit letzter Schluss“ sei. Sie ließ die Möglichkeit offen, dass sich die Theorie der Hochsensibilität bei weiterführender Forschung als etwas anderes entpuppen könnte. Gleichzeitig schloss sie kategorisch aus, dass HS mit Angst gleichgesetzt werden könne, weil Ängstlichkeit als angeborenes Persönlichkeitsmerkmal etwas sei, das das Überleben hindern würde und somit nicht „von der Natur gewollt“ sein könne. Das Merkmal hätte ihrer Ansicht nach im logischen Schluss dazu geführt, dass es selbst aussterben müsse. Hintergrund: Wer von Natur aus vor allem Angst hat, ist verhungert, bevor er sich vermehren kann.
So, wie passt das nun alles zusammen?
Im Grunde kommt es darauf an, was man für ein Weltbild hat. In meinem Weltbild sieht es folgendermaßen aus: Angst ist immer da. Anouk Claes spricht von einem „rudimentäten Schwarz-weiß-Denken der Angst: Angst kennt nur den Tiger und der beißt immer.“ Heißt was? In meinem Verständnis heißt das nicht nur „Der Tiger beißt immer.“, sondern nur in dem Fall, dass schwarz zutrifft. Wenn weiß zutrifft, sprich, die Situation in den „Augen der Angst“ ungefährlich ist, ist ja kein Tiger da. Dann kann man gemütlich Beeren pflücken und Pläuschchen halten. Aber sollte es nur irgendwo im Gebüsch rascheln, dann renn in Gottes Namen, was das Zeug hält!
Elaine N. Aron sagt: Hochsensible kennen den Zustand der Normalität, der Ausgeglichenheit und des gut-mit-sich-selbst-Klarkommens. Menschen mit Krankheitsbildern welcher Art auch immer, ob nun AD(H)S, Panikstörung, Trauma oder Autismus „sind immer so“ [überreizt], wie HSP eben nur in Überreizungssituationen.
Was ist nun Verdrängung? Wiki sagt: „Als Verdrängung wird in der Psychoanalyse ein angenommener psychologischer Abwehrmechanismus bezeichnet, durch den tabuierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen würden.“ Gut. Es werden also bedrohliche Sachverhalte von der Wahrnehmung ausgeschlossen. Kennen wir das?
Wir sitzen am ersten Arbeitstag in einer unbekannten Cafeteria, kennen weder Raum, noch Leute und fühlen uns schrecklich unwohl. Wir schauen herum, orten die Ausgänge, den Weg zum Klo, evtl. bekannte Gesichter, Plätze in ruhigen Ecken, Blicke von Anwesenden etc. Wir checken die Tiger. Der Blutdruck steigt, der Hunger ist weg. Und wie nennt man das im Volksmund? Angst. Wir könnten nun hingehen zum erstbesten Tisch und sagen: Ich bin neu hier und hab Angst. Nee, können wir natürlich nicht, aber wir sagen uns einfach: „Ich bin neu hier und hab Angst.“ Es ist unstrittig in jedem Fall angenehmer zu sagen: „Ich bin hochsensibel, ich muss mich erst orientieren und unbekannte Situationen liegen HSP eh nicht, ich kann da eigentlich nichts machen.“ Das hält meinen Selbstwert (= Ego) oben. Jedenfalls mehr als Variante 1. Wenn ich zum Ende der Woche dann ein Raumgefühl habe, schon Leute kenne, nette Gespräche hatte usw. Dann bin ich wieder mehr in meiner Komfortzone…
Und was ist der Unterschied zwischen den Varianten? Nichts, außer meiner Bewertung meiner Reaktion. Nenne ich es eigen-gefühls-bewusst „Angst“? Oder schließe ich das (unangenehme) Gefühl aus meiner Wahrnehmung aus und werfe das bequeme Mäntelchen HS darüber? So weit so gut. Könnte also sein, dass HSP ihre Angst verdrängen, weil´s dem Selbstbild dient…
Aber da ist ein Haken an der Sache: Wie kommt es zu diesem nachweisbaren Prozentsatz von scheinbaren HS-Individuen in zahlreichen anderen Spezies? Fühlen sich Fischlein in fremden Cafeterien auch unwohl? (Falls sie überhaupt noch was fühlen und nicht paniert in der Auslage harren.) Warum bleibt das eine der vielzitierten fünf Rehlein im Wald, während die anderen auf der Lichtung im fetten Gras stehen? Es hat „Angst“ vorm Jäger, vorm Tiger oder vor sonstwem. Kann das sein? Sprechen wir den Tieren nicht die Gefühle ab? Wovor haben Fruchtfliegen Angst? Wäre mal ne Umfrage in der Fußgängerzone wert… Ich für meinen Teil könnte mich sogar ganz gut darauf einlassen, dass Tiere Gefühle haben…
Der Knackpunkt ist, dass Angst dazu da ist, das physische Überleben zu sichern. Und wenn das Überleben vorerst nicht in Gefahr scheint, ist alles easy. Die Angst gehört in meinem Verständnis nicht zum „Emotionalkörper“, wie man in esotherisch angehauchten Kreisen sagt. Sie gehört zum physischen Körper, also eher zu den Instinkten. Und mal ehrlich – wenn wir „Instinkt“ hören, sind wir in unserer Assoziation sehr schnell bei den Tieren.
Was ist das nun mit der Aussage „Hochsensibilität ist Angstverdrängung“? Mal ehrlich: Angst hat keinen guten Ruf, obwohl sie tagaus, tagein wertvolle Dinge für uns tut. Ich trete nicht in nächtliche Pfützen, weil meine Angst schreit: „Vorsicht! Loch im Boden! Absturz!!!“ War zwar keine reale Absturzgefahr, aber meine Füße bleiben trocken. Soviel zum rudimentäten schwarz-weiß-Denken. Dazu kommt Folgendes: In meinen Augen haben HSP eine ausgeprägtere Wahrnehmung, aber keine Ausbildung dazu. Wir bekommen mehr (raschelndes Gebüsch) mit, haben aber nicht gelernt, mit diesen Infos ordentlich umzugehen. Das Zuviel überlastet uns und allein die Tatsache, dass ich vor lauter Geraschel gar nicht mehr differenzieren kann, ob ein Tiger raschelt oder eine Maus, macht meine Angst wahnsinnig. Sie brüllt nur noch „Tiger! Tiger! Tiiiger!!!“ und ich komme nicht mehr zum Prüfen, sondern gehe an meiner Überreizung zugrunde. Und da spreche ich von kratzenden Etiketten und lauter Musik und noch gar nicht vom modernen Alltag mit Straßenbahnen und Einkaufszentren. Und wenn ich so recht überlege… Die allermeisten Tipps, die in HSP-Ratgebern stehen, sind Tipps die eigene Angst nicht so hochkochen zu lassen, dass sie mich handlungsunfähig erstarren lässt.
Und was genau passiert in der Überreizung mit mir? Ich bin entweder 1. absolut nicht mehr sensibel (Angriff) oder 2. ich flüchte aus der Situation, wenn ich sie nicht gleich ganz meide (Flucht) oder 3. ich kann nicht weg, wenn mein Chef (also nicht MEINER! 😉 ) mich anbrüllt und gehe in > Erstarrung. Hmmm… Klassische Angstreaktionen!
Mist! Ehrlich gesagt hab ich diesen Beitrag im Herbst 2018 begonnen!!! Und seither wirken lassen. Ich wollte mir eigentlich beweisen, dass HS und Angst NICHT das gleiche sind. Ihr seht ja, was es gebracht hat. Nun gut. Ich belass es dabei und freue mich, wenn ihr mir Feedback per Mail schickt.
Ganz liebe Grüße im März 2020
Yvonne
Posted: März 18th, 2020 under HS.